die Zeit danach...

Jetzt, da ich dies schreibe ist es Winter. Draußen liegt Schnee und unsere Kinder liegen auf dem Friedhof in der kalten Erde.

Die Zeit im Krankenhaus war eine Zeit, in der wir von niemandem etwas wissen wollten. Das Zimmer war unsere Welt und von außen sollte nichts hereindringen. Nur wenige Personen ließen wir an uns heran. Ich fuhr früh morgens hin, am Nachmittag kurz heim um mit dem Hund rauszugehen, dann wieder hin und spät abends wieder nach Hause.

Zum schlafen nach Hause. Schlafen... daran war nicht zu denken. Ich hing immer wieder vor dem Computer um unsere Geschichte niederzuschreiben. Gegen morgen , als mir dann die Augen zufielen bin ich ins Bett um nicht im Krankenhaus einzuschlafen. Irgendwann holt sich der Körper was er braucht.

Den Sonntag verbrachten wir im freien Fall der Gefühle. Wir redeten uns ein, daß das alles Gottes Wille war und schon irgendeinen Zweck erfülle. Nur welchen? Wir wußten, daß uns das entweder auseinander bringen oder nur noch mehr zusammenführen würde. Sabine hatte noch Schmerzen von der Narbe und sowieso war alles so unwirklich. So grau in grau. Wir waren wie in Watte gepackt und wollten uns gegenseitig nicht wehtun.

Am Montag Morgen mußte ich ins Geschäftszimmer im Krankenhaus und die Papiere ausfüllen lassen, die ich für das Standesamt brauchte: Die Geburtsurkunden.

Und noch weitere Urkunden, die keiner braucht. Die Sterbeurkunden der eigenen Kinder.

Später am Tag kam dann die Ärztin, die den Kaiserschnitt durchgeführt hatte, sprach uns Trost zu und erklärte uns die OP. Der Schnitt wurde etwas höher als gewöhnlich angesetzt um Lucia zuerst zu holen. Als Sie draußen war wurde Sie gleich an das Kinderärzteteam weitergegeben und dann wurde erst Gabriel geholt. Außerdem erklärte sie uns, daß wir jetzt mit dem Fehlverhalten der Leute in unserer Umgebung zu rechnen hätten. Die Menschen um uns wüßten nicht, wie Sie mit uns umgehen sollen. Das verstanden wir schon in diesem Moment. Wie es aber aussieht, wenn man dieses Fehlverhalten erlebt ( und wir haben es erlebt... ) realisierten wir erst später. Wir bekamen dann auch Prospekte von Selbsthilfegruppen. Selbsthilfegruppen... wie sich das anhört! Da gehen wir sowieso nicht hin. Wir sind froh, mit niemandem darüber reden zu müssen. Wir sind doch keine Psychos oder Alkis, daß wir zu so etwas gehen müssen!!! - doch, aber dazu später -

Die Ärztin fragte uns dann auch noch, ob wir unsere Kinder noch einmal sehen wollten. Da waren wir uns einig - nein. Hätten wir mal, denn man trauert solchen Gelegenheiten nach, wenn man sie nicht mehr hat.

Wir redeten über die Dinge, die da jetzt auf uns zukamen. Der Pfarrer mußte verständigt werden und das Bestattungsunternehmen. Blumen für den Sarg wollten wir zusammen aussuchen, genau wie die Grabplatte, auf der ja nun zwei Namen stehen sollten.

Und wenn die Beerdigung rum war wollten wir in Urlaub fahren. Einfach weg. Nach Dänemark oder so.

Tags darauf habe ich mit meinem Vater mein neues Auto abgeholt. Einen Kombi. Das hatte ich mir auch anders vorgestellt. Mit dem Auto sind wir dann auch aufs Standesamt gefahren. Als ich dem Standesbeamten die Unterlagen gab sagte er etwas von einem freudigen Ereignis. Ich sagte nur: "Nein" und schüttelte kurz den Kopf. Es war ein netter Mann und es war ihm unangenehm, aber er konnte es ja nicht wissen. Die Sterbeurkunden lagen unten. Wir klärten dann die Formalitäten und ich war froh, als ich wieder raus war. Anschließend fuhren wir auch noch zum Babyausstatter um die letzten Kleider und noch zwei Spielzeugtiere für den Sarg zu besorgen. Zuhause schon den ganzen Schrank voll und dann muß man noch Sachen aussuchen in denen die eigenen Babys in ihrem Sarg besonders hübsch aussehen. Keine sehr dankbare Aufgabe. Und die Frauen mit ihren dicken Bäuchen um einen herum, die kleine Anziehsachen hochheben und diese anlächeln. Die Kleider für das Begräbnis der eigenen Kinder aussuchen zu müssen sollte niemandem angetan werden. Das gibt einem den Rest...

Nachmittags kam der Kinderarzt zu uns ins Zimmer. Er war auch der Mann, der mir im Aufwachzimmer die Botschaft von Lucias Tod brachte. Ich erkannte ihn an den Augen und an der Stimme denn ich hatte sie noch genau im Ohr. Drei ausgeschlafene Kinderärzte waren an diesem Morgen zugegen, erklärte er, und jede Hand hätte er auch gebraucht. Normal ist nur einer da. Sie hätten 55 Minuten lang vergeblich versucht der kleinen Lucia Luft in die Lungen zu pumpen. Sie wollte nicht atmen. Keiner von ihnen konnte sich erklären warum es nicht ging. Sie hatte die Lungenreife bekommen und Sie war eigentlich groß genug um selbst zu atmen. Sie tat es aber nicht! Nach knapp einer Stunde haben Sie aufgegeben. Die Gehirnschäden wären nach dieser Zeit ohne Sauerstoff so groß, daß Sie auch wenn Sie dann angefangen hätte zu atmen Schwerbehindert gewesen wäre und nicht lange überlebt hätte. Als sie Lucia zu uns brachten röchelte Sie noch zweimal kurz, worauf wir Sie von der Klinikpfarrerin, die ja noch da war sofort taufen ließen. Es war nur ein Reflex und doch ein Hauch von Leben. Der Arzt sagte uns noch, daß er selbst ein behindertes Kind habe. Auch solche Leute sind nicht gegen das Schicksal gefeit. Ganz normale Schwangerschaft, ganz normale Geburt und doch...

Den Rest des Tages verbrachten wir irgendwie mit Fernsehen und ich wickelte mich von einer Stuhlseite auf die andere. Die Stühle im Kreißsaal waren bequemer.

Am 3. Oktober habe ich Geburtstag. Das ist ja immer ein Tag auf den man sich freut. Für mich war es der schlimmste Geburtstag in meinem Leben. Meine Mutter hatte Kuchen gebacken und wir machten es uns in einem Aufenthaltsraum so gemütlich wie möglich. Mit Kerzen und mitgebrachten Tellern und Kaffee hatten sich meine Eltern alle Mühe gegeben uns den Tag so angenehm wie möglich zu gestalten. Sabines Schwester, ihr Mann und deren Kinder waren auch da. Doch so richtig wollte keine Stimmung aufkommen. Die Verwandten riefen nach und nach an und einige Freunde ließen durch meine Schwester gratulieren. Sabine machte sich Vorwürfe, daß Sie mir mein größtes Geschenk nicht hatte machen können. Ich mache ihr den Vorwurf nicht.

Wir haben nicht nur getrauert. Wir haben auch versucht zu lachen, doch es ist immer ein fader Beigeschmack dabei. So, als ob man das nicht dürfte, wo doch gerade die Kinder gestorben waren. Aber es ist eine Form das Erlebte zu bewältigen, auch zu verdrängen. Wir hatten Angst in der Trauer zu versinken und dann nicht mehr raus zu kommen. Eine schwierige Zeit würde anbrechen, das wußten wir...

Nach zwei weiteren quälenden Tagen durfte meine Frau dann endlich nach Hause.

Auf dem Weg aus dem Krankenhaus zum Auto sagte Sie zu mir: "Eigentlich wollte ich diesen Weg zum Auto mit einem MaxiCosi am Arm gehen. Jetzt habe ich gar nichts!"

Wir kamen nach Hause mit Nichts. Die einzige Freude war unseren Hund Cosmo wiederzusehen. Sonst war nur Beklemmung um uns herum.

Den ersten Abend haben wir es uns so richtig schön gemacht. Wir haben uns was vom Italiener kommen lassen und Wein getrunken, auf dem Sofa gelegen und ferngesehen. Und so sollte sich das erst einmal fortsetzen. Wir haben es uns so gut gehen lassen, daß wir Kilo um Kilo zugenommen haben. Uns war es egal.

Dann stand die Beerdigung an. Wir mußten in einen Blumenladen und uns Gestecke für die Beerdigung unserer Kinder aussuchen.

In dem Laden kam es dann wieder zu einem Erlebnis, bei dem wir auch nur den Kopf schütteln konnten. Ich werde das hier nicht näher erläutern. Blumen aussuchen war schon doof genug, aber doofe Sprüche anhören...

Ich denke für unseren Pfarrer war es auch nicht einfach. Er ist noch nicht lange bei uns im Ort und ein Kinderbegräbnis kommt ja auch nicht so oft vor ( und das ist auch gut so ). Trotzdem konnten wir uns ganz gut unterhalten und die Beerdigung vorbereiten. Apropos vorbereiten. Meine Eltern nahmen uns in dieser schweren Zeit so einiges ab. Ob es Erledigungen oder Gartenarbeit war, sie taten viel für uns - danke!

Am Tag vor der Beerdigung sollte der Sarg noch einmal geöffnet werden, so daß wir ein letztes mal Abschied von unseren Kindern nehmen konnten. Dazu sollten unsere beiden Eltern auch dabei sein. Sie sollten die Kinder sehen, damit sie auch für Sie zur Realität werden. Erst was man sieht kann man auch begreifen. Verlust begreifen. Das war für uns sehr wichtig.

Als es dann soweit war bekamen wir beide einen Schock. Wir betraten die Friedhofskapelle und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Man sah zwar, daß es Gabriel und Lucia waren, aber sie sahen im Kreißsaal noch völlig anders aus. Gabriel sah aus wie ein Greis. Das ehemals rundliche Gesicht war völlig zusammengefallen. Bei Lucia ebenfalls. Die kleinen Händchen waren gefaltet, so lagen sie nebeneinander mit ein paar Stofftieren in ihrem kleinen weißen Sarg. Wir standen nicht lange davor, dann mußten wir uns setzen. Der Anblick war grausam. Ich schaute meiner Frau ins Gesicht und erschauderte wieder: unendliche Trauer gemischt mit völligem Unverständnis. Womit hatten wir das verdient? Warum wir? Warum..?

Am nächsten Tag war die Beerdigung. Unser Pfarrer hat eine schöne Rede gehalten und ein paar Worte werde ich wohl nie vergessen. Er sagte z.B.: " Hier muß ich Worte finden wo ich doch lieber schweigen sollte." und etwas von Trost für die Untröstlichen.

Ein Sargträger trug dann den kleinen Sarg vor sich her, und zu zweit ließen Sie ihn dann unter unseren Augen in die Erde hinab. Diese Bilder habe ich nur noch verschwommen vor Augen, denn das alles lief wie ein Film an mir vorüber. Ein schlechter Film. Hier irgendwelche Gefühle aufzuschreiben bin ich nicht in der Lage. Das kann sowieso niemand nachvollziehen. Seine eigenen Kinder beerdigen zu müssen ...

Dann sind wir erst einmal weg gefahren. Ich hatte noch Urlaub genommen, und danke hier noch einmal meinen Kollegen für ihr Verständnis. Erst wollten wir nach Dänemark, aber wegen dem Kaiserschnitt erschien uns die Fahrt dann doch zu lang und wir buchten über Internet eine Woche in einer hundefreundlichen Pension in einem kleinen Ort in Thüringen. Hauptsache weg!

Vier Tage verbrachten wir damit, tagsüber die Sehenswürdigkeiten dort zu besuchen und es uns abends gut gehen zu lassen. Kyffhäuser und Wartburg fallen mir spontan als Tagesziele ein. Stadtbummel in Erfurt und Bad Salzungen. Einen Großteil der Zeit verbrachten wir im Auto und viel redeten wir dabei nicht.

Dann hatte Sabine Heimweh. Mir hat es auch gereicht und wir sind morgens spontan wieder nach Hause gefahren. In ein stilles Haus. Zu still...

Wir wollten uns von nun an nach außen hin wieder öffnen. Doch vorher mußten wir uns aussprechen, was wir bis dahin zu wenig getan hatten. Diese Aussprache kam einfach so und endete in einem handfesten Zank und einigen Erkenntnissen. Doch sie war so ungemein wichtig, denn danach war vieles einfacher und wir konnten offener miteinander umgehen.

Beim reden halfen uns auch die Hebammen, die uns besuchten um nach Sabines Bauch zu sehen. Sie machten ihre Sache sehr gut, denn ohne daß wir es mitbekommen hatten befanden wir uns in einer Gesprächstherapie. Wenn man mit dritten darüber redet kommt so einiges raus, was man dem Partner nicht direkt gesagt hätte. So ist es aber viel einfacher, und die Botschaft kommt trotzdem an. Manchmal über eine Stunde blieben sie bei uns sitzen, mit Ruhe und Einfühlungsvermögen brachten Sie uns zum reden. Und reden ist wichtig...

Man kann solch ein Erlebnis nicht erfolgreich über längere Zeit verdrängen - irgendwann holt es einen ein. Ein schwarzer Fleck auf der Seele.

Ich könnte hier noch Seitenweise weiterschreiben, was alles noch geschehen ist. Denn irgendwann ging ich wieder an die Arbeit, irgendwann ging ich wieder ins Training, irgendwann ging auch Sabine wieder an die Arbeit, irgendwann war ein Geburtstag von einem Freund und irgendwann gingen wir eben doch zur Selbsthilfegruppe! Und jedesmal, wenn man etwas wieder gemacht hat war es anders als vorher. Das eigene denken ändert sich sehr. Man sieht die dinge eben aus einem anderen Winkel, mit anderen Augen...

Mit den Augen, die zwei Streifen auf dem Teststäbchen gesehen haben, die den Bauch haben wachsen sehen und die schließlich zwei tote Babys gesehen haben, die eigenen!

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